Synthetische Biologie

Wellen der Synthetischen Biologie

von Lisa Prudnikow

Richard Feynman, einer der großen Physiker des 20. Jahrhunderts, prägte den Satz: „What I cannot create, I do not understand“. Übertragen auf lebendige Systeme, heißt das in etwa so viel wie, dass das Leben erst komplett verstanden werden muss, bevor neues erzeugt werden kann [Voit, 2013]. Verständnis für das Lebendige ist in der Tat seit frühen Zeiten eine Motivation der Menschheit. Aristoteles, Universalgelehrte der Antike, verstand alles Lebende als eine Hierarchie von Funktionen wie Bewegung und Stoffwechsel. Diese seien durch den Geist miteinander verbunden [Schrauwers, 2013]. Im 17. Jh. war Philosoph René Descartes einer eher mechanischeren Auffassung, demnach Lebewesen komplexe Maschinerien seien, Körper und Geist jedoch getrennt voneinander existieren [Schönbeck, 2020]. Einen ersten Ansatz, der der heutigen Disziplin der sogenannten Systembiologie entspricht, beschrieb Philosoph Immanuel Kant zu Zeiten der Aufklärung. Er verstand Organismen als selbstorganisierte Wesen, dessen Bestandteile in wechselseitiger Abhängigkeit gemeinsam eine ganzheitliche Ursächlichkeit beschreiben. Dabei postulierte Kant, dass es in der Natur nichts Zweckfreies gäbe [Schrauwers, 2013].

„What is life?“ fragte sich auch Erwin Schrödinger. Die Antwort versuchte der Physiker 1944 in seinen Schrödinger lectures am Trinity College in Dublin zu finden [Venter, 2014]. Für Schrödinger ist das Leben ein System, das der Tendenz vom Zustand der Ordnung auf maximale Unordnung zuzusteuern (2. Hauptsatz der Thermodynamik), entgehen kann. Im Gegenteil, Organsimen haben für ihn die Gabe einen „Strom von Unordnung auf sich zu ziehen und damit dem Zerfall in atomares Chaos auszuweichen“. Dies begründete er mit dem Aufbau der Chromosomen, die „eine Art Code enthalten müssen, der über das gesamte Muster der zukünftigen Entwicklung eines Individuums bestimmt“ [Schrödinger, 1944]. Im selben Jahr widerlegten Oswald Avery und sein Forschungsteam, die bis dahin geltende Theorie, Proteine seien die Träger der Erbinformation. Stattdessen konnten sie beweisen, dass es sich bei dem „blueprint of life“ um die Desoxyribonukleinsäure, kurz DNA, handelt [Avery, 1944]. Nachdem die polymere Helix-Struktur der DNA ab den frühen 50er Jahren aufgeklärt war, stand ebendieser Code im Mittelpunkt der Suche nach den Prinzipien des Lebens. Dieser Code, alles was einen Organismus ausmacht, steht in der DNA geschrieben [Schrauwers, 2013].

1961 gelang es Marshal Nirenberg und Heinrich Matthaei den genetischen Code zu identifizieren und aufzustellen [Nirenberg, 1961]. Daraufhin formulierte Francis Crick 1970 das zentrale Dogma der Molekularbiologie, welches den Weg der Information durch ein biologisches System beschreibt [Venter, 2014]. Mit Methoden zur DNA-Sequenzierung die seit 1975 mit der Sangersequenzierung Einzug in die Labors fanden, konnten auch zunehmend Abschnitte des Erbguts decodiert und charakterisiert werden [van Dijk, 2018]. Mit dem Humangenomprojekt sollte schließlich die genetische Zusammensetzung des Menschen erreicht werden. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gelang im Jahr 2001. Nun schien das Leben vorerst verstanden [URL 1].

Über diese Art des Verständnisses hinaus und zurück zur Aussage Feynmans, gelangte das Team um den Biochemiker Craig Venter im Jahr 2010. Venter war zuvor bereits maßgeblich am Humangenomprojekt beteiligt [Schrauwers, 2014]. Mit ihrem Vorhaben „das Genom einer lebenden Zelle synthetisch herzustellen und damit zu verstehen, welche Gene für das Leben notwendig sind […]“, knackten Sie die wohl letzte Barriere der Wissenschaft des Lebens [Venter, 2014]. Der chemischen Synthese des Chromosoms vom Bakterium Mycoplasma mycoides, schlossen sie dessen Transfer in das Bakterium Mycolpasma capricolum an. Insgesamt betrachtet, wurde dieser innovative Erfolge mit Standartlabormethoden erreicht, ausgenommen der Genomsynthese. Kurze DNA-Fragmente wurden von verschiedenen DNA-Synthesefirmen hergestellt, in Hefezellen erfolgte die Fusionierung der Fragmente zum fertigen Genom. Das „neue“ Genom konnte mittels Protoplastenfusion in das Bakterium Mycoplasma capricolum eingebracht werden [Wünschiers, 2019]. Venter gelang es dabei bereits im Jahr 2007 ein sogenanntes Minimalgenom herzustellen, in dem er das Erbgut des Bakterium Mycoplasma genitalium um ein Fünftel reduzierte und somit die für dessen Überleben notwendigen Gene identifizieren konnte [Venter, 2014].

Die synthetische Biologie erweitert die Methoden der klassischen Gentechnik zur Ingenieurskunst [Wünschiers, 2019]. Das heißt, dass genauso wie beim Bau eines Hauses, ein Bauplan vorliegen muss. Der Ingenieur muss neben der Konstruktion an sich viele andere Punkte mit einberechnen: Bodenbeschaffenheit, Gewicht, Luftfeuchtigkeit usw. Schwieriger wird es bei der Erweiterung eines Gebäudes [Feldhusen, 2013]. Bei einem Computer müssen Mainboard und CPU-Sockel sowie Spannungswandler usw. harmonieren, um ein funktionierendes System abzubilden [Nann, 2016]. In der synthetischen Biologie übertragen sich diese Handlungskonzepte auf die biologische Zelle. Mit standardisierten DNA-Abschnitten, den Bauteilen, können gezielt biologische Konstrukte hergestellt werden [Purnick, 2009]. Wie kann man sich das vorstellen?

Der synthetische Gedanke

In einem Organismus liegt DNA nicht einfach „nur“ vor und kodiert für Eigenschaften. Unser Erbgut ist im Gegenteil „in Bewegung“. Die Expression eines Gens in ein Protein kann gefördert oder auch unterbunden werden. Man spricht von der Genregulation. Dafür sind jedoch weitere DNA-Abschnitte oder auch Proteine, sogenannte genregulatorische Elemente, zuständig. Diese werden als Promotor, Operator, Aktivator, Repressor usw. bezeichnet (Abbildung 1) [Schmidt, 2017]. Jaques Monod und Francois Jacob beschrieben 1961 erstmals eine solche regulative Schaltung mit dem sogenannten Lac-Operon im Bakterium E. coli als Antwort auf Umwelteinflüsse [Monod, 1961].

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Abb. 1: Damit das Enzym RNA-Polymerase einen DNA-Abschnitt in mRNA übersetzen kann, muss sie vom Promotor aus zum Gen gelangen. Wird der Operator jedoch durch einen aktiven Repressor besetzt, funktioniert das nicht und die Übersetzung (Transkription) stoppt. Ist der Repressor durch Bindung eines Liganden inaktiv, kann er nicht an dem Operator binden und der Weg für die RNA-Polymerase ist frei (created with biorender.com).

Mit diesem Wissen entwickelte sich die Idee der Möglichkeit ein molekularbiologisches synthetisches Netzwerk zusammenzustellen [Cameron, 2014]. Stanley Cohen und Herbert Boyer setzten im Sommer 1973 einen einschneidenden Meilenstein in der Geschichte der DNA-Technologien. Die Wissenschaftler trafen sich ein Jahr zuvor auf einer Konferenz und erkannten, dass DNA-Abschnitte in Plasmide eingeführt und dieses Konstrukt in ein Bakterium eingeschleust werden könnte. Plasmid und DNA-Abschnitt müssten dafür mit demselben Restriktionsenzym behandelt werden, um sich an den Schnittstellen verbinden zu können [Wünschiers, 2019]. Mit dieser Errungenschaft gentechnologischer Anwendung wurde die Idee neue regulatorische Systeme aus molekularen Komponenten zusammenzusetzten, greifbarer. Zu dieser Zeit fehlten jedoch noch maßgebliche Kenntnisse über die Genregulation in Bakterien und den Umgang mit DNA im Labor, geschweige denn ihrer Manipulation. Der Traum eines genetischen Schaltkreises musste also noch warten [Cameron, 2014]. Noch im selben Jahr stellte der Genetiker Wacław Szybalski bereits fest: „Bisher arbeiten wir an der deskriptiven Phase der Molekularbiologie. Aber die wirkliche Herausforderung wird beginnen, wenn wir in die synthetische Phase eintreten. Dann werden wir neue Kontrollelemente entwickeln und diese neuen Module zu den bestehenden Genomen hinzufügen oder ganz neue Genome aufbauen. Dies wäre ein Bereich mit einem unbegrenzten Expansionspotential und kaum Einschränkungen für den Aufbau ‘neuer, besserer Regelkreise‘ oder schließlich anderer ‘synthetischer‘ Organismen.” [Szybalski, 1974]. Diese deskriptive Phase, von der Szybalski spricht, steigerte sich in den 90er Jahren rasant. Der technologische Fortschritt der Automatisierung und Hochdurchsatztechnologien im Labor erlaubte nun schneller und effizienter denn je DNA, RNA, Lipide, Proteine und Metabolite zu analysieren. Auch die Innovationen von Computerprogrammen ermöglichte komplette mikrobielle Genome zu sequenzieren. Diese Fortschritte erzeugten das Wissen, dass zelluläre Netzwerke in einer hierarchischen Struktur aufgebaut sind, die in einzelnen Modulen betrachtet werden können [Cameron, 2014].

Die erste Welle

Die unterste Ebene von Computerarchitekturen bilden Transistoren und Widerstände. In der Biologie entsprechen dieser Ebene Promotoren oder auch Operatoren, also Abschnitte auf der DNA die eine Funktion erfüllen (siehe Abbildung 1). Sowohl Computer als auch biologische Systeme sind also in einer Hierarchie aus verschiedenen Ebenen aufgebaut. Von Ebene zu Ebene wandernd, wächst das System in seiner Komplexität. Dieses Wissen kann genutzt werden, um die Funktionalität eines natürlichen Systems zu verstehen und künstliche Netzwerke zu erzeugen. Promotoren, Repressoren oder andere regulatorische Elemente werden in diesem Kontext als Parts bezeichnet. Über sogenannte Devices werden Parts miteinander verbunden, sodass kleinere Module konstruiert werden. Das wären zum Beispiel biochemische Reaktionen [Amos, 206]. Konstrukte aus verschiedenen Genabschnitten können dann die gewünschte Funktion ausführen. Für die synthetische Biologie ist das Wissen über genau solche Abschnitte und deren Interaktion von großen Belangen. Die Phase der sogenannten erste Welle der synthetischen Biologie fokussierte sich neben der Charakterisierung von Parts auf das Kreieren und Perfektionieren von Modulen [Purnick, 2009].

Die zunehmenden innovativen Methoden der Sequenzierung ermöglichten die Charakterisierung und Katalogisierung genetischer Elemente. Auch das als Arbeitspferd der Molekularbiologie bekannte Bakterium Escherichia coli wurde für die Evaluation der Konstrukte in einem lebendigen System häufig eingesetzt [Cameron, 2014]. Dieser Grundstein hat nicht nur unser quantitatives Verständnis natürlicher biologischer Prozesse erweitert. Wie mit einem Bauplan war es nun möglich, genetische Designs zu entwickeln, die für kleinere Module funktionieren, so wie es Szybalski voraussagte. Transkriptionsrepressoren oder ribosomale Bindungsstellen wurden miteinander verbunden, um ein spezifisches Verhalten hervorzurufen [Purnick, 2009]. An diesem Punkt wird der Unterschied zur Gentechnik nochmal erkennbar: Genetische Schaltkreise werden also gezielt (mit einem Computermodell) mit standardisierten Bauteilen konstruiert [Wünschiers, 2019]. Die Gentechnik konzentriert sich auf durch molekulargenetische Methoden hervorgebrachte genetische Veränderungen wie z.B. Insertionen, Deletionen oder den Transfer von DNA-Abschnitten [Luger, 2017].

Von 2000 bis 2003 lassen sich diese „foundational years“ einordnen [Amos, 2016]. Als Herausforderung dieser Phase stellte sich die Ausrichtung und Anpassung der Elemente dar. In einem konstruierten genetischen Schaltkreis können die eingesetzten Bauteile nämlich von unterschiedlichen Quellen stammen. Aufgabe ist es, diese so zu manipulieren, dass sie synergetisch das angestrebte Ziel erreichen. Mit den sich immer weiter entwickelnden Technologien im Labor konnten die Parts fortlaufend charakterisiert, standardisiert und aneinander angepasst werden [Purnick, 2009].

 

Abb. 2: Das Toggle-Switch-Design: Repressor 2 blockiert Promotor 2, der vor Repressor 1 liegt. Repressor 1 blockiert Promotor 1, der die Transkription von Repressor 2 in Gang setzt. Inducer können die Inhibierung der Promotoren aufheben (created with biorender.com; nach Collins, 2000).

In erster Linie war Ziel dieser Phase analog zu elektrischen Schaltungen, Funktionen durch biologische Module zu erzeugen. Diese ersten konstruierten Schaltkreise konnten mit einfachen mathematischen Modellen beschrieben werden [Cameron, 2014]. Das Forschungsteam um James Collins zum Beispiel konstruierte zu dieser Zeit einen sogenannten genetischen Kippschalter (genetic toggle switch), der mit Promotoren die Expression von sich gegenseitig hemmenden Transkriptionsrepressoren steuern kann. Der Schalter basiert auf dem Prinzip der kooperativen Repression von konstitutiv transkribierten Promotoren und der Degradation der Repressoren. Er besteht aus zwei Promotoren und Repressoren. Die Promotoren werden jeweils durch den Repressor inhibiert, dessen Expression vom stromaufwärts bzw. abwärts liegenden Promotor abhängt (siehe Abbildung 2). Dass ein Repressor einen Promotor blockiert, kann durch einen sogenannten Inducer, ein regulierendes Molekül unterbunden werden [Collins, 2000]. Parts können also so aneinandergereiht werden, dass ein gewünschtes Gen exprimiert wird. Die Konstrukte können sehr komplex sein und ähnlich wie in einem Stromkreis kontrolliert geschalten werden, um zum gewünschten Produkt zu gelangen. Allerdings können auch völlig neue Promotoren designt oder bekannte Promotoren modifiziert bzw. mit künstlichen Elementen erweitert werden. Ein fluoreszierendes Protein, wie das GFP zum Beispiel wird häufig „eingebaut“, um das Schaltkreisverhalten zu über die Zeit zu überwachen. Mit den gesammelten Grundlagen ist eine heute noch ständig wachsende Bibliothek an genetischen Elementen und Modulen entstanden. Der geschickte Einsatz solcher Parts erlaubt Kontrolle über das Zellverhalten in verschiedenen biochemischen Prozessen wie die Transkription, die Translation oder auch Post-translationale Prozesse [Purnick, 2009].

Die zweite Welle

Die Toolbox der bekannten genetischen Bauelemente lässt es nun zu, Parts und Module zu komplexeren Systemen zu kombinieren. Neben dem Wissen über die Funktionsweise genetischer Elemente, müssen ebenfalls Umgebungsbedingungen mit in die Konstruktion einbezogen werden. Parts und Module werden also so miteinander kombiniert, dass die entstandenen Konstrukte in eine einzelne Zelle integriert oder über eine Anzahl verschiedener Zellen verteilt werden. Dabei müssen die Bauelemente so interagieren, dass ein möglichst kohärentes Verhalten erzeugt wird [Amos, 2016]. Für diese sehr komplexe Aufgabe sind neue Designprinzipien nötig, in die das sich ständig erweiternde Grundlagenwissen über biologische Systeme und deren Umgebung einfließt. Das heißt, dass das synthetische System möglichst adaptiv geplant sein sollte [Purnick, 2009].

Mitte der 2000er Jahre begann das Feld der synthetischen Biologie zu florieren. Neben den vielen Publikationen, die zu biologischen Schaltkreisen und charakterisierten Parts veröffentlicht wurden (und Venters Ankündigungen an einem synthetischen Genom zu arbeiten), fand auch die erste internationale Konferenz zur synthetischen Biologie statt. Bei der Synthetic Biology 1.0 im Jahr 2004 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) traf sich eine sehr interdisziplinäre Community von Biologen, Chemikern, Physikern, Ingenieuren und auch Computerwissenschaftlern. Thematisiert wurden die Kompatibilität der Ingenieurswissenschaften und der Biologie sowie die Standardisierung biologischer Bauelemente und deren Abstraktion in Hierarchien. Das Design, die Konstruktion und die Charakterisierung biologischer Systeme wurde vor allem auch im Kontext des Langzeitziels Komplett-Genomsequenzierung diskutiert [Cameron, 2014].

Dass ein System lebendig ist, setzt voraus, dass alle Wechselwirkungen reguliert werden, damit sich das System selbst erhalten kann. In einer Zelle zum Beispiel beeinflusst ein Reaktionsprodukt die Synthese eines Enzyms, welches eine nachfolgende Reaktion katalysieren soll [Schrauwers, 2013]. Bauelemente wie im Ingenieurswesen zu standardisieren, ist in der Biologie komplizierter. Wie schon erwähnt, benötigt es auch Wissen zu Umgebungsbedingungen. Informationen über Mutationen, Zelltod, intra-, inter- und extrazelluläre Zustandsbedingungen oder parallele Prozesse müssen unbedingt in das Design eines synthetischen Konstruktes mit einbezogen werden. Die Komponenten des Konstruktes müssen in einem entworfenen System auch richtig zugeordnet und ausgerichtet werden, was bei der ständig wachsenden Bibliothek an Parts eine immer komplexere Aufgabe darstellt [Purnick, 2009].

Systeme, die also in der zweiten Well entworfen wurden, können auf mehrere Pfade oder Ziele wie zum Beispiel Zellpopulationen oder Gewebe abzielen und damit Potential für innovative Umwelt- und therapeutische Anwendungen schaffen [Purnick, 2009]. Anwendungsgebiete liegen auch in der Nanotechnologie oder im Tissue Engineering, was zeigt, dass die Kontrolle über Zell-Zell-Interaktionen zu spezifischen Strukturen oder Mustern ebenfalls in den Fokus rückt [Amos, 2016]. Ein Beispiel für ein solches synthetisches Ökosystem ist die bakterielle Populationskontrolle. Prokaryoten und auch Eukaryoten können ihre Umgebung wahrnehmen und untereinander kommunizieren. In sogenannten Quorum sensing systemen können die Zellen durch chemische Kommunikation die Zelldichte messen und sie dementsprechend regulieren [Purnick, 2009]. Bei einem Forschungsprojekt vom Team um Lingchong You wurde ein solches System in E. coli integriert, gekoppelt an die Expression eines toxischen Proteins. Dabei wurde ein synthetisches Konstrukt aus regulierenden Abschnitten und Promotoren, in das Bakterium eingefügt. In Gegenwart des künstlichen Induktors IPTG wird dieses Konstrukt in Gang gesetzt, so dass die extrazelluläre Signalsubstanz N-Acylhomoserinlacton (AHL) synthetisiert und aktiviert wird. Das führt dazu, dass die Epression des Killerproteins CcdB induziert wird. Je höher die Zelldichten sind, desto mehr CcdB wird in den Zellen exprimiert. Eine hohe CcdB-Expression führt zum Zelltod. Innerhalb einer Zellpopulation können Variationen der Signalstärke oder auch Genexpressionsrauschen dazu führen, dass unterschiedliche Level an CcdB exprimiert werden [You, 2004]. Anhand dieses Rauschens kann eine stabile Population über einen langen Zeitraum aufrechterhalten werden. Diese Engineered Population Control ist nützlich für industrielle Fermentation, Bioremediation oder auch die Immunantwort. Auch mit solch einem Projekt über komplexe systembiologische Zusammenhänge lernen wir über natürlich vorkommende Systeme. Eine Kooperation zwischen verschiedenen koexistenten Zelltypen erlaubt es multizellulären Organismen zu funktionieren und zu überleben [Purnick, 2009].

Synthetische Ökosysteme können auch auf der manipulierten Kommunikation zwischen Reichen (zwischen Bakterien, Hefen, Säugetieren) basieren, wie zum Beispiel beim induzierten Parasitismus durch Dritte. Die Hefe Saccharomyces cerevisiae produziert Aldehyd, was in kultivierten HEK-Zellen den synthetischen Promotor PAIR aktiviert. Dieser bringt die Expression vom Protein sBLA in Gang, wodurch im Medium kein Ampicillin mehr produziert wird. Das erlaubt die Vermehrung von E. coli und den Abbau von Nährstoffen, wodurch die Säugetierzelle HEK stirbt (Abbildung 3). Die Dichte der beiden Zelltypen kann also durch die Anwesenheit der Bäckerhefe beeinflusst werden [Weber, 2007].

Abb. 3: Ein genetischer Schaltkreis wird durch von S. cerevisiae abgegebenen Aldehyd ausgelöst und beeinflusst somit das Zellgleichgewicht (created with biorender.com; nach Purnick, 2009).

Mit synthetischen Konstrukten der zweiten Welle können auch anwendungsorientierte Systeme erstellt werden. Programmierbare Zellen wie zum Beispiel Bakterien, die durch ein synthetisches System angetrieben Tumorzellen zerstören, bilden ein lebendes rechnerisch-therapeutisches Tool ab. Auch in diesem Fall müssen wieder Informationen zu den involvierten Zellen, Molekülen und Umgebungsbedingungen mit in das Design eingebracht werden. Außerdem müssen die Zellen auf Signale reagieren können, sodass sich die Bakterien in den Tumoren ansiedeln und die Zelldichte wahrnehmen. Systeme dieser Art bestehen aus Sensoren, Aktoren und Reaktionen, die modular aufgebaut sind und teilweise austauschbar sind, um auf möglichst viele Krebsarten anwendbar zu sein. Die Adaptivität eines synthetischen Konstrukts zu medizinischen Zwecken ist eine große Motivation [Purnick, 2009].

Zeitlich entspricht die zweite Welle den Jahren zwischen 2003 bis 2009 mit verschwimmenden Grenzen [Amos, 2016]. Auch, wenn sich der Fokus dieser Phasen ändert, besteht weiterhin Bedarf neue Parts sowie auch Module zu erforschen und zu designen. Es gibt dafür ein öffentliches Repository, das Registry of Standart Biological Parts, wo wie in einem digitalen Katalog die genetischen Parts aufgeführt und auch physisch im Biobrick-Standard hinterlegt sind [Purnick, 2009]. Der Biobrick-Standard ist eine Art Format, welches erleichtert, Parts schrittweise in genetische Schaltkreise zu integrieren. Wissenschaftler können sich diese Parts in Plasmiden bestellen, bzw. die von ihnen neu charakterisierten hinterlegen lassen. Im jährlichen International Genetically Engineered Machine (iGEM) Wettbewerb werden von studentischen Gruppen ebenfalls synthetische Konstrukte erstellt, dessen Endresultate in diesem Repository hinterlegt werden. Um am Computer ein synthetisches Design zu erstellen, kann mit der Synthetic Biology Open Language (SBOL) als Standartformat die Information aus dem Repository über die Parts für weitere Computertools übersetzt werden [Camero, 2014]. Als genetisches Vokabular wird diese Darstellungsweise auch zur Visualisierung verwendet [URL 2].

Die dritte Welle

Nun wurde der Bezug zum hierarchischen Aufbau eines Computers mehrfach dargestellt. Transistoren, Steckplätze, Lötverbindungen, Platinen oder Spulen bilden die kleinste Ebene eines Computers ab. Aus ihnen werden Mainboards, Festplatten und Prozessoren zusammengesetzt. Diese einzelnen „Organe“ des Computers übernehmen Aufgaben und interagieren miteinander. So entsteht ein Netzwerk, das den Computer an sich ausmacht [Nann, 2016]. Komplette Netzwerke in der Natur zu verstehen und abzubilden ist Aufgabe der Systembiologie [Voit, 2013]. In der dritten Welle der synthetischen Biologie werden komplette biologische Netzwerke jedoch konzipiert. Diese Phase dauert nun seit ungefähr 10 Jahren an. Der Unterschied zwischen Systemen und Netzwerken wird dabei an der Kapazität zur Informationsübertragung gemessen. In Systemen ist die Kapazität im Allgemeinen relativ gering, während die Bandbreite in Netzwerken höher ist. Systeme liegen in einem Computer verteilt, parallel und asynchron vor. Fällt lokal eine Komponente aus, führt dies meist nicht zu einem kompletten globalen Ausfall [Amos, 2016]. In biologischen Netzwerken muss im Gegensatz zur Standardelektronik jeder Draht ein anderes Molekül sein, damit verschiedene Elemente oder auch Zellen effizient Informationen austauschen können und als „Bauteil“ verbunden sind. Während in der Elektronik Drähte räumlich voneinander getrennt und isoliert sind, funktioniert dies im Inneren einer Zelle eher weniger. Das hat zur Folge, dass die chemische Vielfalt der Konstrukte rasch zu nimmt [Macía, 2012].

Anstatt biologische Elemente zu konzipieren, so dass sie in kleineren Modulen oder ganzen Systemen funktionieren, müssen in der dritten Welle die Systeme so konzipiert sein und interagieren, dass sie ein Netzwerk bilden. Das erstellte Konstrukt muss in natürlichen Umgebungsbedingungen genauso funktionieren wie unter Laborbedingungen [Purnick, 2009]. So gesehen stellt die Umgebung der Zelle eine natürliche Obergrenze für die Komplexität von Modulen dar, innerhalb müssen die „Kabel“ mit Proteinen „isoliert“ werden. Die entstehenden Konstrukte sind somit nicht mehr adaptiv, sondern äußerst spezifisch für den jeweiligen Kontext. Der Fokus entfernt sich also von einzelnen Zellen, hin zu mikrobiellen Konsortien. Damit können aber auch komplexere Aufgaben gelöst werden, die für individuelle Stämme unmöglich wären. Netzwerke sind robuster gegenüber Umweltbeeinträchtigungen und haben die Fähigkeit durch Kommunikation eine Art von Arbeitsteilung, also verteiltes Rechnen zu erleichtern. Mit synthetischen Netzwerken können verschiedene Zelltypen nicht nur miteinander interagieren, sondern auch auf bestimmte parallele Zustandsformen reagieren [Amos, 2016].

Abb. 4: Entwicklung der Forschung der synthetischen Biologie (nach Amos, 2016).

Das Leben ist als Bottom-up-Prozess zu verstehen. Mit den einzelnen Ebenen des Lebens, Moleküle und Proteine, die Zelle, Gewebe und Organe bis hin zum Organismus und seiner Interaktion mit der Umwelt, steigt dessen Komplexität. Mit der langen Suche und schließlich dem Erfolg der Aufklärung des Aufbaus unserer Erbinformation, ist es der Menschheit gelungen das Leben mehr und mehr zu verstehen. Die Sequenzierung ermöglichte weitere Erfolge in der Grundlagenforschung um schließlich eigenes Leben zu kreieren und zu manipulieren, was weiteres Wissen schuf [Schrauwers, 2013]. In dieser Bottom-up-Perspektive entwickelte sich ebenso die synthetische Biologie (Abbildung 3). Auch wenn die Phasen sich chronologisch darstellen lassen, befinden wir uns auch nach wie vor in der deskriptiven Phase der ersten und zweiten Welle [Amos, 2016]. Denn auch für große Maschinen, sind immer neue Erkenntnisse über die Verbesserung der Zahnräder von Belangen. 

Quellen

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    • [URL 2] Synthetic Biology Open Language. (letzter Zugriff: 28.08.2020)